Sam Francis

Untitled, 1984

106.7 X 73 inch

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Namen, Die Wir Kennen – Gesichter, Die Wir Nicht Sehen: Die Kunst der Anonymität

Names We Know, Faces We Don’t: The Art of Anonymity

Von Nana Japaridze

In den Annalen der Kunstgeschichte tritt das Geheimnis häufig maskiert auf. Von Dadaisten in Frauenkleidung bis hin zu maskierten Street-Art-Künstlern – seit Generationen verbergen Künstler ihre Identität hinter Alter Egos, Pseudonymen oder zweiten Persönlichkeiten. Diese geheimen Identitäten dienen als Schutzschild, Spiegel oder Schlüssel: Werkzeuge, mit denen neue Stimmen freigesetzt, Konventionen herausgefordert oder manchmal die Kunstwelt selbst verspottet wird.

In gewisser Weise liest sich die Kunstgeschichte deshalb wie ein Kriminalroman: rätselhafte Signaturen, kryptische Graffiti-Tags und Doppelleben, in denen die Grenze zwischen Künstler und Figur verschwimmt. Warum verspüren Kreative den Drang, sich zu verdoppeln? Manche wollen Identität satirisieren, andere fama oder Zensur entkommen, und einige sehnen sich schlicht nach der Freiheit, einmal jemand anderes zu sein. Hinter jedem Alias verbirgt sich eine künstlerische Offenbarung. Heben wir ein paar dieser Masken und entdecken wir, was passiert, wenn Künstler sich ausgerechnet im grellen Licht verstecken.

Der Dada-Detektiv: Marcel Duchamp wird Rrose Sélavy

Paris, 1920er Jahre. Innerhalb der Avantgarde taucht ein neuer Name auf: Rrose Sélavy. Die Signatur, elegant und witzig, gehörte nicht etwa einer Frau, sondern Marcel Duchamp – dem schelmischen Pionier des Dadaismus und der Konzeptkunst. Ausgesprochen wie “Rose, c’est la vie” verbirgt der Name zugleich ein weiteres Wortspiel: “Eros, c’est la vie”.

Duchamp betrieb nicht bloß Maskerade. Als Fotograf Man Ray ihn 1921 als Rrose fotografierte – mit Samthut, Make-up und verschmitztem Lächeln – entstand ein Bild, das zugleich Porträt und Provokation war. Rrose Sélavy wurde ein lebendiges Kunstwerk: eine Persona, durch die Duchamp Fragen zu Geschlecht, Autorschaft und Originalität aufwerfen konnte.

 

Er begann, Werke unter diesem Namen zu signieren, darunter die Skulptur Why Not Sneeze, Rose Sélavy? (1921). Schon Jahre zuvor hatte er die Kunstwelt schockiert, indem er ein Urinal mit „R. Mutt“ signierte und als Fountain (1917) präsentierte. Mit diesen Aliassen verspottete Duchamp den Kult um den „Künstlernamen“. Wie ein Kritiker schrieb: „Rrose Sélavy – ‘Eros, das ist das Leben’ – fasste Duchamps Kunst auf brillante Weise zusammen.“

 

Rrose erlaubte ihm, aus sich selbst herauszutreten: Identität wurde zum Spiel, Kunst zur Maskerade. Durch sie zeigte Duchamp, dass es bei der Kunst ebenso sehr darum geht, wer spricht, wie darum, was gesagt wird.

 

Der Mann hinter „SAMO“: Jean-Michel Basquiats urbane Doppelgestalt

 

Ein halbes Jahrhundert später, Ende der 1970er Jahre in New York, tauchte ein anderes Alias auf – diesmal als Graffiti auf den Straßen: SAMO©. Seine rätselhaften Slogans wirkten wie surreale urbane Gedichte:

„SAMO© as an end to mindwash religion, nowhere politics, and bogus philosophy.“

Hinter dem Tag steckten zwei Jugendliche: Jean-Michel Basquiat und Al Diaz. SAMO – kurz für „Same Old“ – war ihre erfundene Marke, zugleich Satire und Rebellion. Der Pseudonym gab Basquiat die Möglichkeit, die Kunstszene zu kritisieren und dennoch unsichtbar zu bleiben. Die Anonymität verlieh ihm Selbstbewusstsein und machte ihn lange vor seinem Ruhm zur urbanen Legende.

 

1980 kam es zum Bruch zwischen Basquiat und Diaz, und Basquiat sprühte überall in SoHo: „SAMO IS DEAD“ – er tötete sein Alter Ego symbolisch genau in dem Moment, in dem sein eigener Name begann, bekannt zu werden. Doch SAMOs Geist blieb in seinen späteren Gemälden präsent – in hastigen Kritzeleien und poetischen Fragmenten.

 

SAMO war zugleich Maske und Trainingsfeld – ein Raum, in dem Basquiat experimentieren, provozieren und seine Stimme finden konnte. Wie zuvor Duchamp nutzte er ein Pseudonym, um das System von innen heraus anzugreifen. Als er sich schließlich zu erkennen gab, war die Kunstwelt bereit, zuzuhören.

 

Die Kunst des Verschwindens: Banksys verborgenes Gesicht

 

Wenn Duchamp mit Identität spielte und Basquiat sie als Rüstung nutzte, machte Banksy aus Anonymität ein weltumspannendes Performancekunstwerk. Der britische Street-Art-Künstler ist heute ein kulturelles Phänomen – gerade weil niemand weiß, wer er ist. Seine Schablonenmotive – Kinder mit Ballons, Polizisten mit Blumen – erscheinen über Nacht an Wänden von London bis Los Angeles, ungzeichnet, aber unverkennbar.

In einer Ära ständiger Sichtbarkeit wirkt Banksys Unsichtbarkeit fast revolutionär. Er sagte einmal: „If you want to say something and have people listen, you have to wear a mask.“ Die Maske schützt ihn juristisch, aber auch philosophisch. Indem er das Gesicht des Künstlers entfernt, zwingt Banksy uns, uns auf das Werk zu konzentrieren – seine Kritik an Konsum, Gewalt und Heuchelei – statt auf seine Person.

 

Sein Anonymat ist selbst eine Geschichte. Das globale Rätselraten um „Wer ist Banksy?“ trägt zu seinem Mythos ebenso bei wie seine Kunst. Selbst seine spektakulärsten Aktionen – wie die Selbstschredderung von Girl with Balloon im Auktionshaus Sotheby’s – entfalten ihre Wirkung nur im Zusammenspiel mit Geheimhaltung.

 

Banksys Pseudonym ist längst mehr als ein Schutzschild: Es ist ein Spiegel. Es reflektiert unsere Faszination für Prominenz, Autorschaft und Wahrheit. Indem er verborgen bleibt, macht Banksy den Akt des Versteckens selbst zu einer Botschaft.

 

Das Schattennetzwerk der Street Art: Blek le Rat, Invader und KAWS

 

Banksys Geheimnis steht in einer langen Tradition von Street-Art-Künstlern, die ihre Pseudonyme zu Legenden machten.

 

Im Paris der 1980er Jahre sprühte Blek le Rat (Xavier Prou) schwarze Ratten auf Wände und meinte: „Ratten sind die einzigen freien Tiere in der Stadt.“ Sein Name spielte auf den Comic-Helden Blek le Roc an – und darauf, dass „rat“ rückwärts „art“ ergibt. Durch seine Anonymität wurde er selbst zu einer mythischen Figur, und sein Einfluss auf Banksy gilt als unbestreitbar.

Ende der 1990er Jahre trat ein weiterer Franzose auf: Invader. Seitdem installiert er heimlich Tausende kleiner Mosaike, inspiriert von Space Invaders, in über 80 Städten weltweit. Mit seiner pixeligen Maske betrachtet er die Welt als Arcadehalle und führt Buch über jede „Invasion“. Einmal schmuggelte er sogar heimlich ein Werk in den Louvre – und erklärte lachend, er sei „der einzige lebende Künstler mit einem Werk im Louvre“.

Auf der anderen Seite des Atlantiks begann KAWS (Brian Donnelly) in den 1990er Jahren damit, seinen Namen an New Yorker Wände zu taggen – einfach weil er die Buchstaben mochte. Mit der Zeit wurde „KAWS“ seine berufliche Identität, eine Brücke vom Graffiti in die Galerie. Seine cartoonhaften Skulpturen und Modekooperationen machten ihn zu einer globalen Marke. KAWS legte sein Pseudonym nie ab – er wuchs hinein. Sein Alias wurde seine Signatur: ein Beweis, dass ein Alter Ego vom anonymen Tag zum weltweit erkennbaren Markenzeichen werden kann.

 

In all diesen Fällen ist das Alias weniger Tarnung als vielmehr Künstlername – eine persona, die Stimme und Werk Kontinuität verleiht.

 

Identität als Performance: Grayson Perrys „Claire“ und die Guerrilla Girls

 

Nicht jedes Alter Ego versteckt; manche enthüllen, indem sie übertreiben. Der britische Künstler Grayson Perry, bekannt für Keramikarbeiten und gesellschaftskritischen Humor, tritt häufig als sein Alter Ego Claire auf – in opulenten Kleidern und bunten Perücken. Über Claire erforscht Perry Themen wie Geschlecht, Klasse und Selbstausdruck, stets mit Humor und Mitgefühl.

„Claire“, sagt Perry, „kann sein, wer sie will – Matriarchin, Aktivistin, Freiheitskämpferin.“ Sie ist keine Verkleidung, sondern eine Erweiterung – eine Möglichkeit, Identität und Männlichkeit performativ zu reflektieren. Sein Foto Mother of All Battles (1996), das Claire als kämpferische Hausfrau mit Gewehr zeigt, verbindet Satire mit Ernsthaftigkeit.

 

Während Perry Identität personalisiert, kollektivieren die Guerrilla Girls sie. Seit 1985 tritt dieses feministische Künstlerkollektiv anonym auf – mit Gorilla-Masken, unterzeichnet mit Namen berühmter Künstlerinnen wie Frida Kahlo oder Käthe Kollwitz. Ihre Anonymität dient nicht der Tarnung, sondern der Verstärkung: Ohne individuelle Egos wird die Botschaft lauter. Sie prangern Sexismus, Rassismus und strukturelle Ungleichheit in der Kunstwelt an.

 

Ihr berühmtestes Plakat fragte: „Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolitan Museum zu gelangen?“ – und wies darauf hin, dass weniger als 5 % der ausgestellten Künstler im Modern-Art-Trakt Frauen waren, während 85 % der dargestellten Akte weiblich waren. Die Gorilla-Masken wurden zu Symbolen des Widerstands und bewiesen, dass Unsichtbarkeit eine starke Form von Präsenz sein kann.

Die Magie des Enttarnens

 

Von Duchamps Rrose Sélavy bis zu Banksys gesichtsloser Figur, von Basquiats SAMO bis zu Grayson Perrys Claire – Künstler haben immer wieder durch Verkleidung eine tiefere Wahrheit gefunden. Das Alter Ego befreit sie von Erwartung und Angst; es erlaubt ihnen zu experimentieren, zu provozieren und frei zu sprechen.

 

Duchamp verwendete Rrose, um den Kult um das „geniale“ Künstler-Ich zu karikieren. Basquiat nutzte SAMO, um sich Gehör zu verschaffen in einer Welt, die ihn noch nicht erkannte. Banksys Anonymität schützt seine Botschaft vor dem Blendlicht des Ruhms. Perrys Claire macht die Fluidität der Identität sichtbar, während die Guerrilla Girls das Verbergen selbst in Aktivismus verwandeln.

 

Ihre Doppelidentitäten erinnern daran, dass Kunst immer Transformation bedeutet. Ein Urinal wird zu Kunst, wenn es „R. Mutt“ signiert. Ein Graffiti-Slogan wird zu Poesie, wenn er mit „SAMO“ getaggt ist. Ein anonym geführter Protest wird Geschichte, wenn maskierte Frauen ihn tragen.

 

Alter Egos zeigen, dass Wahrheit in der Kunst oft hinter Fiktion verborgen ist. Sie verwischen die Grenzen zwischen Künstler und Werk, zwischen Wirklichkeit und Performance. Sie bringen uns dazu, genauer hinzusehen, nach Hinweisen zu suchen – und machen uns so selbst zu Detektiven des Bedeutens.

 

Oscar Wilde bemerkte einmal: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gibt man ihm eine Maske, sagt er die Wahrheit.“ Künstler haben das immer gewusst. Ihre Masken – ob aus Samt, als Graffiti-Tag oder Gorilla-Maske – verbergen die Wahrheit nicht; sie enthüllen sie, nur aus einem anderen Gesicht heraus.

 

Und vielleicht liegt genau darin die wahre Magie künstlerischer Alter Egos: dass Künstler, indem sie sich verkleiden, noch mehr zu sich selbst werden.

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